Charlie- der letzte Überlebende

Wie sagt man so schön, die Geschichte wiederholt sich….und das stimmt (leider).

Vor fast genau einem Jahr habe ich in meinem Blog- Beitrag „So lange der Mensch denkt, dass Tiere nicht fühlen…“ über meine Erfahrungen als Züchter in der Kleintier- Szene geschrieben. Damals war ich so schockiert von der Empathielosigkeit gegenüber dem fühlenden Lebewesen Meerschweinchen, dass ich doch einige Zeit darüber nachdenken musste wie ich damit umgehen sollte. Sätze wie „ich muss mich um meine eigenen Tiere kümmern“ oder „ich kann nicht alle retten“ habe ich mir in der vergangenen Zeit immer wieder selbst vorgebetet.

 

So unsagbar viel Tierleid wurde durch den boomenden und dann plötzlich zusammenbrechenden Haustiermarkt verursacht, dass man fast täglich mit unfassbaren Angeboten konfrontiert war.

Dieses eine, sehr bekannte, Kleinanzeigenportal muss in der Vergangenheit täglich neue Rekorde aufgestellt haben.

 

Natürlich schaue auch ich, nach wie vor, regelmäßig rein- einfach um zu wissen, was in der Umgebung „los ist“. Oft habe ich Anzeigen gefunden, die einem jeden Tierliebhaber die Haare zu Berge stehen lassen- oft habe ich den Wunsch verspürt durch Erklärung bzw. Aufklärungen eingreifen zu wollen.

Einige Male habe ich auch versucht Aufklärung zu leisten- meist jedoch mit sehr ernüchternden Ergebnissen. Entweder es kommt erst gar keine Rückmeldung, oder man wird mit Phrasen alá „das haben wir schon immer so gemacht oder früher ging das auch so, gerne auch kannste kaufen- dann kannste das so machen“ belegt. Man wundert sich irgendwann nicht mehr, man sagt einfach nichts mehr dazu.

 

Auf der anderen Seite, bei jedem noch so kleinen (auch nur vermuteten) Verstoß gegen Haltungsgrundsätze geht ein (gespielter?) Aufschrei durch die sozialen Medien. Doch- so lässt es sich manchesmal vermuten- handelt es sich nur um eine kleine Minderheit, die auf artgerechte Haltung ihrer Haustiere Wert legen und auch die dazugehörige Muse aufwenden sich (bestenfalls VOR der Anschaffung) mit den Bedürfnissen des zukünftigen Haustieres zu befassen?

 

Dazu Beispiele aus den vergangenen Wochen:

Komplettes Unverständnis schlug mir beispielsweise entgegen, als ich eine Absage an einen Interessenten (m/w/d) erteilte, der ein Rentnermädel (3 Jahre alt) in ein neues Zuhause zu 2 potenten Jungs und einem Baby- Weibchen stecken wollte… Zitat: "Warum? Klappt doch aktuell auch mit den beiden Jungs und dem jungen Weibchen."

Die (m/w/d) nächsten riefen mittags an und wussten zu diesem Zeitpunkt nicht, was unter einem Kastraten zu verstehen ist. Sie (m/w/d) waren offenkundig nicht in der Lage auf einen Link zu klicken um auf die Abgabeseite zu gelangen, um dort die Beschreibung zu den einzelnen Tieren zu lesen… auch auf mehrfache Nachfrage meinerseits, welche Tiere denn gefallen, kam immer wieder dieselbe Beschreibung- die auf gleich 4 Tiere zutraf… aber einen Namen der entsprechenden Tiere hatte man nicht parat. Wohl aber 2 Std. später, Zitat: „alles was man braucht“ und die Frage ob man direkt zwei abholen könne.

Auf meine Nachfrage, was denn alles was man braucht sei, erhielt ich ein Foto von einem (angeblich 1,20m) Käfig vor einem Heizkörper, dekoriert mit jeder Menge ungesundem Kram und die Info, man hätte früher schon Meerschweinchen bei den Hasen(!) gehabt, man wisse Bescheid. Ähm, nein… die Absage mit entsprechender Begründung meinerseits wurde dann ins lächerliche gezogen- na, da geht einem Züchter doch das Herz auf.

 

Ist es so schwer zu verstehen, wenn ein Züchter nicht auf schnellstmöglichen Absatz aus ist, sondern für seine Tiere das Beste will?

Ist es nicht das, was Interessenten von einem Züchter erwarten??? Passende Beratung und damit das Beste für das Tier und einen informierten und zufriedenen Halter… Will der Halter heute nicht mehr, dass es seinem Tier gut geht und schafft dementsprechend auch die Voraussetzungen??

 

Einigen scheint es nur um das eigene Wohl zu gehen- Konsum um jeden Preis- alles was gewünscht wird, immer und zu jedem Zeitpunkt verfügbar- egal ob ein Brot oder eben ein Meerschweinchen. Ich finde diese Entwicklung äußerst bedenklich. Nicht nur bei der Anschaffung muss es schnell gehen. Nein, genauso schnell muss das „Seelentier“ auch wieder weg, wenn es nicht mehr zur (Quarantäne-) freien Zeit, Homeoffice- Verlust (wer hätt´s ahnen können) und der neu erwachten Reiselust passt.

 

Und damit sind wir auch schon beim Initiator für diesen Blog- Beitrag: Charlie, denn Charlie ist das Paradebeispiel für ein Tier, das weg musste.

Aber von Anfang an: 

An jenem Dienstagabend scrolle ich noch eine Runde durch den Tiermarkt in der Umgebung und werde auf eine Anzeige aufmerksam, seit 2 Tagen online, gut 100 Aufrufe und schon in der Übersicht trostlos wirkend:

Meerschweinchen + Stall zu verkaufen 10€

 

Auf dem Galeriebild ein Meerschweinchen das sich an den Gittern hochzieht. Es wirkt auf mich wie ein Hilferuf des Tieres, auch wenn die eigentliche Intention beim Veröffentlichen des Bildes wohl eher war, putzig zu wirken.

 

Ich überlege, soll ich oder nicht…das Bild geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Eigentlich will ich mir sowas nicht mehr antuen. Eigentlich… bis Mittwochnachmittag…

 

Charlie (den Namen wusste ich zu dem Zeitpunkt noch nicht) lebt in einem handelsüblichen Doppelstock- Holzstall, die untere Etage offen auf dem, was mal der Rasen war. Offenbar handelt es sich um ein eher günstiges Modell, denn das Dach ist bereits aufgequollen und mittels Blech beschwert, damit es nicht wegfliegt.

Ein trauriges Bild, bedenkt man doch, dass der Rest des Grundstückes äußerst gepflegt ist und das gesamte Ambiente auf recht wohlhabende Eigentümer schließen lässt.

Charlie hingegen lebt ganz und gar nicht gepflegt. Keine Einstreu, kein einziger Halm Heu und das bisschen Gras aus dem offenen Bereich unten bereits bis unter die Grasnarbe abgefressen. Einzig ein altes, leicht angenagtes Brötchen liegt in der oberen Etage- wohl auch schon länger.

Mal davon abgesehen, dass diese Art der Haltung für jeden Marder, Fuchs oder Waschbären ein sprichwörtlich gefundenes Fressen gewesen wäre, die für das kommende Wochenende angesagte Kaltfront mit bis zu 10 Grad Minus hätte Charlie so wohl kaum überlebt.

 

Als ich ankomme werde ich direkt in den Garten geführt. Keine Vorstellung, keine Nachfragen was ich mit ihm vorhabe oder wo oder wie er zukünftig leben soll. Man merkt, er soll einfach schnell weg. Der Mann, der mich im Empfang nimmt, fragt ob ich ihn selber fangen kann. Da sind unten keine Türen und er könne das nicht. Okay, kein Problem… als ich Charlie in der Hand halte merke ich, fast nur Haut und Knochen- sehr dünn. Alt kann er noch nicht sein, aber wie alt? Man kann es mir nicht sagen. Der Mann geht mit den Worten „Geld machste mit dem Chef“. Ich stehe also da, mit Charlie in der Hand und warte.

 

Dann kommt ein Junge, vielleicht 10-12 Jahre alt. Ich frage, bist du der Chef, der das mit dem Geld regelt? „Ja“ sagt er, und „wir haben ihn Charlie genannt. Sonntag ist sein letzter Freund gestorben und er soll nicht allein hier bleiben. Im Sommer waren sie noch zu viert, wir hatten auch noch 2 Hasen. Aber einer davon hatte direkt was mit dem Auge und ist schnell gestorben und der andere dann auch. Und jetzt ist nur noch Charlie übrig“.

 

Was mir so alles durch den Kopf geht, behalte ich für mich… der Junge kann nichts dafür. Ich sage nur „das machst du richtig, allein sein soll Charlie nicht und das muss er bei mir auch nicht mehr.“ Der Junge nickt mit dem Kopf und sagt „10€ hätte ich gerne, oder willst du den Stall auch? Dann sind es 20€“ Ich gebe ihm 10€, packe Charlie in die Transportbox und verabschiede mich- irgendwie bin ich sprachlos.

 

Das genau ist es, wovor ich meine eigenen Tiere immer bewahren will- ein Leben als billig angeschafftes Kinderspielzeug für das sich offenbar niemand in der Familie, zumindest mal so viel Zeit genommen hat um zu wissen, wie eine artgerechte Haltung aussieht.

 

Warum schafft man sich ein Haustier an? Warum bekommen Kinder ein Haustier? Ich dachte es ist die Freude am Tier und das Bestreben der Eltern, den Kindern Verantwortungsbewusstsein, Empathie und Wissen im Umgang mit Tieren zu vermitteln… zumindest in diesem Fall leider nicht.

Scheinbar nicht mal bei offensichtlich kranken Tieren, kaputte Spielzeuge sind nichts Wert- so macht es den Anschein.

 

Auf der Fahrt denke ich darüber nach, wie man als Eltern damit umgeht, wenn in kurzer Zeit drei kleine Haustiere sterben. Was wurde den Kindern erklärt? Warum wurde das Auge des Kaninchens nicht behandelt? Wie kann man so sein? Nichts gesehen, nichts gemerkt- wohl kaum…

 

Charlie hat in der kurzen Fahrzeit zwei kleine Möhren und ein Stück Gurke verputzt und fräst sich gerade durch das Heu, als ich wieder nach ihm sehe. Er nimmt mich gar nicht wahr, frisst nur alles was um ihn herum ist. Schei…., denke ich, hätte ich gewusst das er so verhungert ist, hätte ich ihn langsam angefüttert. Nun ist es zu spät, alles verputzt.

Zuhause angekommen kommt in eine Quarantäne- Box, er hat matschige und unförmige Köttel und ein paar Untermieter. Er kann die anderen Schweinchen aber hören und fühlt sich hoffentlich nicht ganz so einsam. Es muss leider so sein.

Als ich am nächsten Morgen nach ihm schaue, hat er sich durch das komplette Heubuffett gefräst und liegt dösend in seinem Häuschen- wahrscheinlich hat er die ganze Nacht durch gefressen.

Am Abend will ich ihn mir nochmal genauer anschauen- jetzt nimmt er mich aber wahr und ist gar nicht mehr so kooperativ. Ein herzhafter Biss in meinen Finger bestätigt das. Die Waage zeigt knapp über 700g, für seine Größe locker 150-200g zu wenig. Seit er sich satt gefressen hat und auch etwas zur Ruhe gekommen ist, zeigt er deutlich, das er gelernt hat sich zur Wehr zu setzen. Vielleicht auch ein Grund warum er so lieblos gehalten wurde.

 

Charlie soll demnächst in einer Böckchengruppe vergesellschaftet werden, ob das klappt- wer weiß das schon. Wie gut sein Sozialverhalten ist, werden wir dann sehen. Der Plan mittelfristig beinhaltet in jedem Fall seine Kastration und später dann einen Job als Haremshüter oder Junggemüse- Erzieher. Egal wie es kommt, Charlie hat das schlimmste überstanden…

 

 

Auf dem Foto: Charlie, ein schwarz-weißer Rosetten- Mann dessen Leben nun in eine ganz andere Richtung geht.